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Das Projekt Dersim 1937/38 – Ziele und Vorgehen

Aus dieser Gruppe der in Deutschland lebenden Dersimis ging eine bemerkenswerte Initiative hervor. Der damalige Bundestagsabgeordnete Hüseyin Kenan Aydın und der damalige Vorsitzende der Föderation der Dersim Gemeinden in Europa (FDG) Yasar Kaya riefen im September 2008 das Dersim 1937-38 Oral History Projekt ins Leben. Mit Unterstützung von Akteuren aus Politik und Wissenschaft Dersimer Herkunft, insbesondere durch das Dersim Kultur und Geschichtszentrum e.V., hat die Gruppe seitdem in acht Ländern über 400 Videointerviews mit Zeitzeug*innen der Ereignisse geführt.

Die Interviews haben ein herausragendes pädagogisches Potenzial, da sie zugleich über Gewalt, Migration, Fremdsein und Heimat auf eine sehr direkte, Empathie fördernde Weise sprechen. Sie stellen eine notwendige Ergänzung deutscher Erinnerungskultur dar, da sie stellvertretend für die Erfahrungen von Millionen Deutschen migrantischer Herkunft stehen. Damit geraten sie keinesfalls in Konkurrenz zu der politisch notwendigen Erinnerung an Nationalsozialismus und Shoah. Vielmehr können die aufbereiteten Interviews einen wichtigen Beitrag zur Verständigung zwischen Gruppen zwar sehr unterschiedlicher Herkunft, aber (trotz aller Unterschiede) gemeinsamer Verfolgungserfahrung, leisten.

Auch aus wissenschaftlicher Perspektive handelt es sich um außerordentlich bedeutsame Materialien. Dies gilt insbesondere für die Gewalt- und Erinnerungsforschung, die Erziehungswissenschaft, aber auch für die Linguistik und Ethnologie. Neben den durch weitere (noch zu beantragende) Drittmittel geförderten Auswertungen sollen die aufgearbeiteten Interviews breit in der universitären Lehre eingesetzt werden und können so Grundlage für Qualifikationsarbeiten (Master, Promotionen) bilden. Tatsächlich ist geplant, die wissenschaftliche Analyse als auch die didaktische Aufbereitung finanziert durch Eigenmittel bereits parallel zur Übersetzung ins Deutsche beginnen zu lassen. Die gefilmten Interviews können so zum Ausgangspunkt vielfältiger Aktivitäten in Bildung (u.a. Schulen, Universitäten, Erwachsenenbildung), Kultur (u.a. Museen bzw. Ausstellungen, Film) und Forschung werden.

Bevor all dies geschehen kann, muss das Material allerdings erschlossen werden. Diese Erschließung ist aus einer Reihe von Gründen sehr komplex und aufwändig. So sind die für dieses Projekt ausgewählten Interviews überwiegend auf der Sprache, die mehrheitlich von den Mitgliedern der Verfolgtengruppe gesprochen wird (Kırmancki/Zazaki), geführt worden. Die Sprache wird von etwa drei Millionen Menschen gesprochen, die mehrheitlich in der Türkei leben. Dieses Material muss zunächst verschriftlicht und dann ins Türkische und von dort ins Deutsche übersetzt werden, um es in ein Online Archiv zu überführen. Wir arbeiten diesbezüglich mit dem an der Freien Universität Berlin angesiedelten Archiv oral-history.digital zusammen. Eine direkte Übersetzung ins Deutsche ist für die Menge von Interviews nicht möglich, da es schlicht an Personen mangelt, die Kırmancki/Zazaki und zugleich Deutsch auf jeweils muttersprachlichem Niveau beherrschen. Das Online-Archiv wird die Voraussetzung für eine didaktische Aufarbeitung der Materialien als auch ihrer wissenschaftlichen Analyse bilden.

Diese sehr aufwändige Arbeit wird dankenswerter Weise von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Claudia Roth gefördert.