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Historischer Hintergrund

Viele Perspektiven auf ein Geflecht von Beziehungen und Ereignissen

Im Mittelpunkt des Projektes steht ein Ereigniszeitraum, den wir so neutral wie möglich als Dersim 1937-38 bezeichnen. In diesen Jahren geht das türkische Militär mit extremer Gewalt gegen eine keinesfalls homogene Bevölkerung in den Bergen Anatoliens vor. Es ist kaum möglich, einen Satz über diese Ereignisse, ihre Nachgeschichte und die Erinnerung daran zu schreiben, ohne in das Dickicht unterschiedlicher Deutungen und Identitäten einzutauchen. Jede einzelne davon ist hochgradig politisiert.

Die Ereignisse wurden von türkischer Seite zeitgenössisch als Aufstandsbekämpfung bezeichnet. Lange Zeit, bis weit in die 2000er Jahre hinein, sprachen auch Teile der radikalen türkischen Linken und sich als kurdisch verstehende hochgradig politisierte Gruppen ebenfalls von Aufständen. Historisch ist inzwischen klar, dass es sich mindestens um nicht-provozierte Massaker und Vertreibungen, mit hoher Wahrscheinlichkeit aus rechtlicher Sicht sogar um einen Völkermord handelte. Die selbstzugeschriebenen Identitäten der Verfolgten und gerade auch ihrer Nachfahren in der inzwischen vierten Generation sind weder homogen noch über die Zeit stabil. Diese Zugehörigkeiten haben ethnische – also über Sprache, Kleidung, Bräuche etc. markierte –,  religiöse und durchaus auch staatsbürgerliche Elemente. So trifft man dort Menschen an,

  •     die einen türkischen Pass haben, sich aber mit Nachdruck nicht als türkisch bezeichnen
  •     alevitisch sind, aber letztlich nicht sonderlich religiös
  •     sich als zazaisch/kırmanc sehen und nicht als kurdisch gesehen werden wollen und umgekehrt.

Angehörige der Gruppe, die wir übergreifend Dersimis nennen wollen, sprechen heute überwiegend Türkisch. Für ihre Muttersprache, Kırmancki oder Zazaki (um nur die zwei geläufigsten Bezeichnungen zu verwenden), existieren erst seit einigen Jahrzehnten Alphabete. Die Mehrzahl – Alphabete – zeigt, dass es auch in der Gruppe selbst unterschiedliche Meinungen hinsichtlich der Zugehörigkeit gibt. So basieren die Alphabete auf lateinischer Schrift, sind entweder ans Kurdische oder ans Türkische angelehnt und unterscheiden sich wesentlich im Hinblick auf Diakritika.

Hinzu kommen die Fremddeutungen. Das sind einerseits jene durch die offizielle Türkei, die sich über die Zeit und politischen Konjunkturen folgend immer mal wieder verschieben, aber grundsätzlich davon geprägt sind, den Dersimis keine eigenen Minderheitenrechte zuzugestehen. Das Gebiet Dersim – heute heißt der zentrale Ort Tunceli (Bronzene Hand, was der Bedeutung von ‚eiserne Faust‘ entspricht) – ist auch heute noch durch eine starke Militärpräsenz geprägt: sämtliche Zufahrtsstraßen sind durch schwere Sperren blockiert, die Berge mit Wachtürmen und daran angeschlossenen Kasernen versehen. Wer aus der Gegend kommt, wird offiziell und informell in der Türkei benachteiligt.

Viele Deutsche andererseits nehmen die Gruppe gar nicht als eigenständig wahr und subsumieren ihre Angehörigen unter den Bezeichnungen türkisch oder gar muslimisch (eine Deutung, die von den meisten Angehörigen der Gruppe nachhaltig abgelehnt wird). Aber gerade in Deutschland haben sich, lange weitgehend unbemerkt von der öffentlichen Wahrnehmung, alevitische Gemeinden und als kleinere Gruppe Dersimis in diversen Rechtsformen organisiert. Es gibt eine Vielzahl von Verbänden, Vereinen und Kultureinrichtungen, die einerseits für eine politische Sichtbarkeit eintreten (und diese auch zunehmend erreichen) und andererseits die Kultur der Heimat (insbesondere Sprache und Musik) pflegen. Ein zentrales erinnerungspolitisches Ziel ist die offizielle Anerkennung des Völkermords an den Dersimis in Deutschland und der Türkei. Kultur, politische Sichtbarkeit und Anerkennung als Gruppe gehen einher mit einem zentralen historischen Bezugspunkt, der Gewalt in Dersim in den Jahren 1937-38.

Was geschah 1937 und 1938 in Dersim?

Entwürfe und Planungen
Trotz ihrer regionalen und historischen Besonderheit ist die Gewalt in Dersim im Kontext der Herausbildung der türkischen Nation und den damit verbundenen Bemühungen einer sprachlichen und religiösen Homogenisierung des explizit türkisch-(muslimisch-sunnitischen) Staatsvolks zu sehen.
Seit Gründung der Republik Türkei problematisierten staatlichen Stellen die Region als rebellisch, ungehorsam und widerspenstig – sie sei schon während des Osmanischen Reiches ein Unruheherd gewesen. Dabei griffen offizielle Stellen auch auf rassistische Argumentationen und nationalistische Geschichtsmythen zurück. Kırmancki/Zazaki, eine von vielen Dersimis gesprochene Sprache, wurde als eine Mischung aus Türkisch und Persisch und dementsprechend als abgelehnt angesehen (Jandarma Umum Kumandanlığı, 1932, S. 35–36). Auch die Religion, das Alevitentum, galt vielen als untürkisch.
Die Notwendigkeit einer Militäroperation einschließlich einer Entwaffnung der Bevölkerung, die Entfernung der lokalen Führungsfiguren sowie die anschließende grundlegende Umgestaltung der Region sind wiederkehrende Motive in den Berichten verschiedener ziviler und militärischer Akteure (ebd., S. 235).
Am 25. Dezember 1935 beschloss das Parlament das Gesetz über die Verwaltung der Provinz (Tunceli Vilayeti'nin İdaresi Hakkında Kanun, Gesetz Nr. 2884), mit dem die Region Dersim zu einer Provinz namens Tunceli umgeformt wurde. Der erste Gouverneur und Kommandant der Provinz General Abdullah Alpdoğan ordnete den Bau von Militärposten, Polizei- und Gendarmeriestationen in den Bezirken und Unterbezirken an.

Die Gewalt im Jahr 1937
Als Zeitpunkt für den Ausbruch des vermeintlichen Aufstands in Dersim gilt der 20. März 1937. An diesem Tag zerstörten Unbekannte eine Holzbrücke über dem Flüsschen Harçik und kappten eine Telefonleitung zum Ort Kahmut (Genelkurmay Harp Tarihi Başkanlığı, 2012, S. 55). Als Reaktion bombardierte die türkische Luftwaffe das Haus von Seyit Rıza, der zum Drahtzieher dieser Ereignisse erklärt wurde (ebd., S. 58). Am 4. Mai 1937 verkündete der Ministerrat das weitere Vorgehen, darunter die Deportation der Bevölkerung, die Zerstörung der Dörfer und die Ermordung (vermeintlich bewaffneter) Menschen im so genannten Aufstandsgebiet (ebd., S. 217–218).

Die Fortführung der Gewalt im Jahr 1938
Ende März 1938 beschloss die Regierung eine neue Militäroperation in der Region mit dem Ziel, die vollständige Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die Tötungen beschränkten sich nicht auf die Phase der Militäroperation. Wie ein Bericht des Generalstabs vom 20. August 1938 bestätigt, war es übliche Praxis, dass die Truppen, die die Deportationszüge begleiteten, alle Menschen töteten, die versuchten, sich der Deportation zu entziehen (Genelkurmay Harp Tarihi Başkanlığı, 2012, S. 184).
Die Zahl der offiziell beschlagnahmten Waffen (1.019) steht im Kontrast zur Zahl der Getöteten oder Festgenommenen (7.954). Daraus kann geschlossen werden, dass die überwiegende Mehrheit der Opfer unbewaffnet war. Einen weiteren Hinweis auf die geringe Waffenstärke der Wenigen, die Widerstand leisteten (in den Berichten ist von ca. 40 Personen die Rede), liefert ein Zwischenresümee des Generalstabs vom 29. Juni 1938. Danach wurden im Rahmen der gesamten Militäroperation im Jahr 1938 33 Soldaten getötet (ebd., S. 134). Demgegenüber stehen offiziellen türkischen Angaben folgend 13.160 getötete und 11.818 deportierte Personen (Akyürekli, 2010, S. 123). Wie viele Menschen tatsächlich ermordet, vergewaltigt und vertrieben worden sind, wird nicht mehr aufzuklären sein. In den folgenden Jahrzehnten hielt die Unterdrückung der Dersimis und ihrer Kultur an.

 

Bibliographie

Akyürekli, M. (2010). Dersim Sorunu 1937–1938. Ankara Üniversitesi.

Genelkurmay Harp Tarihi Başkanlığı (2012). Türkiye Cumhuriyetinde Ayaklanmalar (1924–1938). In Kolektif Kaynak Yayınları (Hrsg.), Genelkurmay Belgelerinde Kürt İsyanları II. (S. 11–270). Kaynak Yayınları.

Jandarma Umum Kumandanlığı (1932). Dersim. Dahiliye Vekaleti.